Der WIT-1 orientierte sich an Thurstones Modell der Primary Mental Abilities (PMA), wonach sich intellektuelle Leistungen im Wesentlichen auf sieben Primärfähigkeiten zurückführen lassen:

R Reasoning: Schlussfolgerndes Denken
S Space: Räumliches Denken
N Number: Rechnerisches Denken / Beherrschung von (relativ einfachen) Rechenoperationen
V Verbal Comprehension: Sprachliches Denken
M Memory: Merkfähigkeit (kurzfristiges Behalten relativ einfacher Sachverhalte)
W Word Fluency: Flüssigkeit sprachlicher Einfälle
P Perceptual Speed: Rasches Erkennen von Details

Die Intelligenztheorien sowie das Methodenarsenal haben sich in den letzten Jahrzehnten weiterentwickelt. Man würde nicht nur gegen den Stand der Wissenschaft, sondern auch gegen den innovationsfreudigen Geist Thurstones handeln, wenn man ungeachtet der theoretischen und methodischen Fortschritte sein über 80 Jahre altes Modell heute unverändert beibehalten würde. Dem WIT-2 liegt als theoretische Grundlage ein modernisiertes und erweitertes Thurstone-Modell zugrunde, welches als „Modifiziertes Modell der Primary Mental Abilities“ (MMPMA) bezeichnet wird. Ergänzt wurde das ursprüngliche Modell um Annahmen, die sich in der Intelligenzforschung der letzten Jahrzehnte im Allgemeinen oder in Bezug auf das Thurstone-Modell im Besonderen bewährt haben: (1) Facettenansatz, (2) Hierarchie-Annahme und (3) Kognitive Korrelate Ansatz.

(1) Facettenansatz

Im MMPMA konzipieren wir das schlussfolgernde Denken insgesamt als eine Operation des Denkens im Sinne des Berliner Intelligenzstrukturmodells (BIS) von Jäger, während das räumliche, rechnerische und sprachliche Denken den „Zellen“ im BIS-Modell entspricht. Diese Zellen setzen sich aus einer Operation (hier schlussfolgerndes Denken) und jeweils einer Inhaltsdomäne (figural, numerisch oder verbal) zusammen. Operationalisiert wird das schlussfolgernde Denken als Summenscore über die Indikatoren des räumlichen, rechnerischen und sprachlichen Denkens. Durch die Anwendung der Bündelungstechnik werden bei der Bildung des Indikators für das schlussfolgernde Denken die operativen Varianzanteile fokussiert und die nicht intendierten inhaltsgebundenen Varianzanteile unterdrückt bzw. ausbalanciert.

(2) Hierarchie-Annahme

Einer zentralen Erkenntnis der Intelligenzstrukturforschung zufolge lassen sich Fähigkeiten unterschiedlichen Generalitätsebenen zuordnen. Eine sinnfällige Ergänzung des PMA Modells besteht in der Annahme weiterer Ebenen mit höherer sowie niedriger Generalität. Damit wird das MMPMA, im Sinne der dritten Stufe des evolutionären Modells der Intelligenztheorien nach Sternberg und Powell, ein integratives Modell mit mehreren Generalitätsebenen überlappender Faktoren. Die hierarchischen Generalfaktoren und das Primärfaktorenkonzept werden dabei als einander ergänzende Perspektiven betrachtet. Die unterschiedlichen Generalitätsebenen werden als Strata (Schichten / Ebenen) bezeichnet. Ein solches Stratum beschreibt die Breite und Generalität einer kognitiven Fähigkeit.

Die Primärfaktoren des PMA sind im zweiten (mittleren) Stratum des MMPMA angesiedelt.

In einer ersten Erweiterung des PMA werden hierarchisch übergeordnete Faktoren postuliert, die im dritten Stratum angesiedelt sind. Als übergeordnete Faktoren kommen die fluide und kristallisierte Intelligenz in Frage, die im Rahmen der so genannten Investmenttheorie von Cattell formuliert wurden. Die fluide Intelligenz ist im MMPMA den Primärfaktoren schlussfolgerndes, sprachliches, rechnerisches und räumliches Denken übergeordnet, die kristallisierte Intelligenz dem Thurstone Faktor „word fluency“. Für die fluide Intelligenz wird ein enger Zusammenhang mit der allgemeinen Intelligenz postuliert.

Darüber hinaus werden im Rahmen des MMPMA unterhalb der Primary Mental Abilities auch Faktoren niedriger Generalität angenommen (eng definierte Primärfähigkeiten) und auf dem ersten Stratum angesiedelt. Bei diesen Faktoren handelt es sich um spezifische Anforderungen an die Intelligenz. Beispiele sind etwa die Anforderung, Informationen von vergleichsweise geringer Komplexität effizient zu ordnen, zu sortieren, zu vergleichen und zu kontrollieren (Arbeitseffizienz), oder Anforderungen an Kenntnisse in einer spezifischen Wissensdomäne wie Wirtschaft oder Informationstechnologie. Die Idee, auch sehr spezifische Faktoren in das MMPMA aufzunehmen, leitet sich u. a. aus Ãœberlegungen zur Kriteriumsvalidität im Bereich der Eignungsdiagnostik ab. Forscher wie Wittmann gehen davon aus, dass nur dann eine maximale Validität zu erzielen ist, wenn Prädiktor und Kriterium das gleiche Generalitätsniveau aufweisen (Symmetrieprinzip). Entsprechend sollten die Konstrukte mit hohem Generalitätsniveau, die auf dem Stratum III oder II angesiedelt sind, vor allem dann kriteriumsvalide sein, wenn die vorherzusagenden Kriterien global und situationsübergreifend formuliert sind. Dies ist bei verschiedenen Operationalisierungen des Berufserfolgs der Fall. Umgekehrt verlangt das Berufsleben aber häufig auch sehr spezifische Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse für einen definierten Arbeitsplatz, an denen dann auch der Erfolg gemessen wird. Für dieses spezifischere Auflösungsniveau erzielt man mit spezifischen Faktoren, wie sie im MMPMA im ersten Stratum angesiedelt sind, eine größere konzeptuelle Gemeinsamkeit mit den zu prognostizierenden Kriterien.

(3) Kognitive Korrelate Ansatz

Ein weiterer aktueller Forschungszweig, der im Rahmen des MMPMA berücksichtigt wird, ist die Forschung zum Arbeitsgedächtnis. Ausschlaggebend für das MMPMA ist die allen Modellen des Arbeitsgedächtnisses gemeinsame zentrale Annahme einer limitierenden Kapazität des Arbeitsgedächtnisses. Für das MMPMA wird als Arbeitshypothese angenommen, dass die fluide Intelligenz (als die dem schlussfolgernden Denken übergeordnete Fähigkeit) und das Arbeitsgedächtnis hochgradig überlappende Konstrukte sind. Diese Hypothese hat im Rahmen der WIT-2 Testentwicklung auch eine diagnostisch-pragmatische Funktion. Immer wieder werden Testaufgaben zu Unrecht einseitig an bestimmte theoretische Modelle geknüpft. De facto lassen sich Testaufgaben in verschiedene Modelle einordnen. Die Working-Memory Forschung arbeitet mit Testaufgaben, die in der Intelligenztestentwicklung weitgehend ignoriert werden. Die Verdeutlichung des engen Zusammenhangs zwischen dem Arbeitsgedächtnis und dem schlussfolgernden Denken eröffnet der Intelligenzdiagnostik somit einen Zugang zu neuen Aufgabentypen. So ist die Konstruktion des WIT-2 Subtests E-Mails Bearbeiten ein Ergebnis dieser Perspektivenerweiterung. Zugleich sollte damit der Versuch unternommen werden, auch in Gruppentestungen mit Papier-Bleistift Tests einen Indikator für das Arbeitsgedächtnis zu gewinnen. Dies war mit den bisherigen, überwiegend computergestützten experimentalpsychologischen Aufgaben zum Arbeitsgedächtnis nur eingeschränkt möglich.

Die folgende Abbildung veranschaulicht das Modifizierte Modell der Primary Mental Abilities (MMPMA)

aus: Kersting, M., Althoff, K. & Jäger, A.O. (2008). WIT-2. Der Wilde-Intelligenztest. Verfahrenshinweise. Göttingen: Hogrefe.

aus: Kersting, M., Althoff, K. & Jäger, A.O. (2008). WIT-2. Der Wilde-Intelligenztest. Verfahrenshinweise. Göttingen: Hogrefe.

Das erste Stratum ist in der Abbildung nicht ausgearbeitet. Die in der Abbildung genannten spezifischen Faktoren Arbeitseffizienz sowie Kenntnisse in Informationstechnologie und Wirtschaft sind nur Beispiele für eine Großzahl möglicher spezifischer Anforderungen an die Intelligenz. Am Beispiel der Arbeitseffizienz wird in der Grafik aufgezeigt, dass die Leistungen bei spezifischen Anforderungen von mehreren übergeordneten Faktoren beeinflusst werden können. Die unterschiedliche Linienstärke veranschaulicht die Intensität des Zusammenhangs.

Mit dem WIT-2 werden einige, nicht aber alle im MMPMA formulierten Fähigkeiten erfasst. So wird beispielsweise aus Gründen der Kriteriumsvalidität auf eine Erfassung der „word fluency“ verzichtet. Aus Gründen der Augenscheinvalidität und Akzeptanz wird anstelle der „perceptual speed“ die „Arbeitseffizienz“ erfasst. Eine Interpretation der Faktoren im dritten Stratum (fluide und kristallisierte Intelligenz) aufgrund der WIT-2 Subtests ist aktuell nicht vorgesehen.

Der WIT-2 repräsentiert mit elf Subtests acht Dimensionen:

(1) Schlussfolgerndes Denken
(2) Sprachliches Denken
(3) Rechnerisches Denken
(4) Räumliches Denken
(5) Merkfähigkeit
(6) Arbeitseffizienz
(7) Wissen Wirtschaft
(8) Wissen Informationstechnologie

Für weitere Informationen siehe: Testaufbau und -dauer

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